Gedanken

Gedanken - Das Unfassbare fassen, das Undenkbare denken, das Unsägliche sagen, das Unbeschreibliche beschreiben...

Tastend bewege ich mich in diesem Niemandsland zwischen Leben und Tod. Ohne die Richtung zu kennen, orientierungslos.

So wie sich die Augen an plötzliche Dunkelheit gewöhnen können und allmählich Umrisse wahrnehmen, hoffe ich nach und nach in der Dunkelheit des Schmerzes und der Trauer Lichtpunkte auszumachen. Lernen im Dunkel zu gehen, lernen das innere Licht wiederzufinden...

19. September 2011

Mein geliebter Simeon,
schon beginnt der zweite Herbst, den wir nicht mehr zusammen erleben können.
Im vorigen Jahr blieben die Walnüsse liegen, andere ernteten den reifen Holunder, das Gras blieb ungemäht, die gelben Blumen überwucherten den Garten. Die blaue Bank, auf der Du saßest im glühend hohen Sommer, am Vorabend Deines Todes, steht schon das zweite Jahr verwaist. Nur manchmal sitze ich dort und warte. Der regenreiche Herbst brachte uns die Dunkelheit, die uns entsprach, wir sahen den fallenden Blättern zu und wussten voller Schmerz, dass die Bäume nach dem Winter wieder junge Blätter treiben würden. Und dass dies seine Richtigkeit haben würde.

Der Winter war unser Haus. Weiß, lang, still. Kalt und unnachgiebig. Mit dunklen Himmeln und klaren, eisigen Nächten. Am Grab stand ich, hockte, kniete, lag im Schnee und sprach mit Dir, wartete, schrie, jammerte, jaulte mein Leid zu Dir, zu Gott, ins All, ins Nichts, voller Mitleid mit mir selbst, dass ich Dich verlor. Erfuhr, dass Dir der Frost nichts anhaben kann. Erfuhr, dass Du Dich nicht im Dunkeln fürchtest. Erfuhr, dass Du kein Haus mehr brauchst. Und wollte doch, dass Du wenigstens mein Herz als Haus nehmen würdest. Als kleines, enges, schützendes Haus.

Der Frühling brachte die Düfte mit. Düfte, die an Hoffnung erinnern. Düfte, die leicht und schwingend sind. Die Erde atmet, der Wind treibt die Botschaft des jungen Grüns, der ersten frühen Blüten durch die die Luft. Alles will geboren werden, wachsen, erstarken. Nur Du, nur Du darfst bei diesem Spiel nicht mehr mitspielen. Ich denke mir Dich auf leichten Sohlen, mit Schritten so luftig wie Wind, ich denke mir Dich so duftend wie Birkenblätter, so überraschend wie der erste wärmende Sonnenstrahl. Ich mache Dich zum hellen Traumgebilde und habe Dich doch in die Dunkelheit verloren.

Der Sommer johlte uns frech ins verwundete Leben mit Farben und Geräuschen, mit Geschwindigkeit und Übermut. Wir sahen zu, wie man einen Film in einer fremden Sprache sieht.
Deine Freunde haben ihr Abitur gemacht und genießen Ferien und Freiheit nach 13 Schuljahren. Sie sind stolz auf das, was sie geschafft haben und voller Hoffnung auf Zukunft. Du solltest mit ihnen sein.
Nie war mir der Himmel so weit, so groß, so nah, wie in diesem Sommer des Jahrestages Deines Fortgangs. Nie sah ich die Sterne so klar und verlor mich in der Unendlichkeit des Himmels, wie in diesem Sommer, der nicht warm, nicht sonnig, nicht verschwenderisch war. Ein regnerischer, weinender, frierender Sommer. Es gab Schwimmer und Badelustige. Im Schlachtensee ertrank ein 16 jähriger Junge aus den USA. Ganz ähnlich wie Du. Im Müggelsee ertrank ein alter Mann ganz in der Nähe des Unglücksortes, an dem Dich das Leben losließ. Immer und überall sind Menschen in Not. Manche werden gerettet, manche retten sich selbst, manche müssen sterben. Wir sind machtlos.
Schon wirft der Wind wieder die Nüsse vom Baum,  nach dem Holunder habe ich nicht gesehen. Gelbe Blumen überall.  Früher waren es kleine Sonnen. Jetzt einfach nur Blumen. Es sind einfach nur gelbe Blumen. Struppi ruht am Zaun unter Efeu, Blumen und Unkraut. Manchmal schaue ich nach, als wollte ich mich vergewissern…
Damals, als wir um den kleinen Hund trauerten und so bang spürten, was Verlust und Tod sein kann: Simeon, wir wussten nichts! Doch hat Struppi Dich gelehrt, im Leben mit dem Tod vertraut zu werden. Um Struppis willen haben wir beide lange über den Tod gesprochen.

Das Licht wird weicher, die Sonne kostbarer im Herbst. Sterben ist überall. Im Sterben schmeckt das Leben noch süßer.
Man müsste einen Pflaumenkuchen backen, man könnte Kürbissuppe und Marmelade kochen. Und dankbar und voller Lust die Früchte des Jahres genießen. Fürsorglich sein. Alle Früchte reifen mir umsonst, seit Du sie nicht mehr kostest. Das milde Sonnenlicht wärmt umsonst, da es Dich nicht mehr wärmt. Sogar die Blätter, die sterbenden, fallen umsonst, seit Du nicht mehr durch das Laub raschelst.
Immer mehr wird mir weh… wie lange noch wirst Du fort sein?
Du mochtest Pflaumenkuchen nicht so sehr. Und ich konnte auch nie richtig guten backen. Jetzt würde ich einen saftigen, weichen, süßen Pflaumenkuchen backen, dann würdest Du ihn vielleicht mögen. Immer ist alles zu spät…
Kurz bevor die letzten Blätter fallen wirst Du wieder Geburtstag haben. Du wirst 20 Jahre alt werden. Und Du wirst nicht dabei sein… oder wirst Du uns zuschauen und unsere müden Gesichter streicheln mit einem zarten Hauch von weither?

 

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