Glück

GLÜCK

Lass mir ein wenig Zeit, mein lieber Simeon. Ich muss meine Kräfte sammeln, meine Stimme muss sich vom Weinen erholen, wenn ich wieder vom Glück erzählen will...

Über allem liegt schwer und dunkel die Trauer, die Verzweiflung und der Schmerz. Doch ich will vom Glück erzählen, damit es nicht verloren geht.

Es ist so kostbar und es ist unwiederbringlich. Das Glück. Das Leben.

21. Januar

Lieber Simeon,

Ich möchte ein wenig davon erzählen, wie Du hier seit Deinem 9. Lebensjahr in Friedrichshagen gelebt hast. Obwohl Dir mit 18 die Berliner City mit ihrer Hektik, ihrem Lärm, ihrer bunten, krassen Vielfalt verheißungsvoller erschien, obwohl das schnelle, unberechenbare Leben, die vielen Menschen, die Blicke, Stimmen, Begegnungen Dich anzogen, war Dein Lebensmittelpunkt fast 10 Jahre lang hier.

Apfelblüten

Im Erpetal, März 2007Wie oft sind wir zusammen mit Struppi durchs Erpetal spaziert?
Der Weg am kleinen Flüsschen entlang ist im Sommer üppig grün, fast zugewachsen, die Pflanzen überragen einen, der Boden ist weich und saftig. Die Pflanzen wachsen wild und prächtig. Nur ein schmaler Trampelpfad bleibt, der sich am Ufer neben den Weiden entlang schlängelt, es zirpt, zwitschert, summt und quakt, die Sonne schenkt verschwenderisch Licht und Wärme, die Feuchtigkeit steigt aus dem Boden auf, wilde Kräuter, deren Namen wir nicht kennen, mannshohe Brennnesseln, exotische Riesenpflanzen, die sich hier angesiedelt haben und langsam ausbreiten, hohes Schilf, gelbe Blumen, leuchtend wie Sonnenblumen, Wicken und Winden, Gräser, Klee, die Enten schwimmen mit dem Strom.
Unser Hund läuft voran, wittert all die kleinen Tiere: Mäuse, Maulwürfe, Frösche… Kaninchen! Wenn er Durst hat, sucht er sich eine Stelle, an der das Ufer niedrig ist, um zu trinken. Er ist auch schon mal hineingefallen. Es war jedes Mal große Aufregung, wenn Struppi kopfüber im Wasser landete… Wir waren da und halfen ihm heraus.

Mein Kleiner, waren wir glücklich?

Wir hatten die ganze Wegstrecke lang spannende Sachen zu bereden. Wir hatten Augen für alles um uns her, wir hatten Ohren für die Geräusche, den Wind, für die Vogelrufe, wir hatten Beine zum Laufen, zum Stolpern, zum Stehenbleiben, zum Springen. Wir hatten Hände zum Blumen pflücken, um Äste zur Seite zu biegen, Steine ins Wasser zu werfen, um das Haar aus der Stirn zu streichen, Hände, um den Lauf des Wassers zu fühlen. Erfrischend, kühl, quicklebendig.

Weide im Winter

Mein Glück: Deine kleine Hand in meiner zu fühlen. Deine kleine Hand, die langsam und stetig wuchs und kräftiger wurde.
Meine Verzweiflung: Niemals mehr Deine Hand in meiner halten zu können. Deine Hand, die nicht mehr wachsen wird. Blume, die gebrochen ist.

Erpetal im Winter:
Flaches Land, schneebedeckt, unsere Schritte pflügen einen Pfad durch den Schnee, dicht am Ufer entlang. Wir ahnen, wo der Weg unterm Schnee verläuft. Wir kennen die Biegungen und Ausbuchtungen, die der Weg nimmt, um dicke Wurzeln und niedrige Büsche zu umgehen. Die Weiden recken ihre dünnen Äste in alle Richtungen in die kalte Luft. Wie herumlungernde schwarze Kerle, denen die Haare wild zu Berge stehen. Die Weiden säumen das Ufer der Erpe: Dicke, knorrige Stämme und schlanke, junge Weiden. Über die Jahre sehen wir alte Bäume absterben. Auch eine schmale, junge Weide ist eingegangen. Hatte sie nicht genug Halt im weichen, feuchten Boden?  In einem Frühling stand sie ohne Grün, blieb, wie sie im Winter geworden war: Trocken und blattlos.

Im Winter, im Schnee werden die Krähen Freunde. Dunkle, verlässliche Gefährten.
Das Wasser glänzt fast schwarz. Selbst wenn es sehr kalt ist, friert das Flüsschen selten zu. Im Winter kann man weit sehen, weil die hohen  Sommerurwaldpflanzen verdorrt am Boden liegen. Im Frühjahr sieht alles plattgedrückt, strohig, verwittert grau und hellbraun aus, bis sich die erste Halme zeigen. Bis das Grün durchbricht. Das Grün wächst, leuchtet in der Frühlingssonne und lockt die Tiere an.

Krokus im ErpetalWir haben das Glück gespürt, hier sein zu dürfen, an diesem Ort, in Berlin und doch ganz in der Natur versunken. Im grünen „Urwald“ an der Erpe, in der Stille, in der man die Insekten hört. In der Stille, wenn der Reiher am Morgen vor uns herfliegt, uns lockt, noch ein Stück weiter zu gehen und noch ein Stück und noch weiter, bis er endlich im Bogen zurückfliegt und wir ihm nachschauen.

Über dem Müggelsee kreischten die Möwen. Früher. Über dem Müggelsee kreischen die Möwen. Immer noch.

Ja, mein lieber Simeon, ich schreibe „wir“. „Wir sahen, wir fühlten, wir waren“. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob die Dinge für Dich so viel Bedeutung hatten, wie für mich. Sicher ist, dass Du alles auf Deine Weise erlebt hast, sicher ist, dass wir sehr gerne zusammen dort waren. Sicher ist, dass es Glück war.
Sicher ist, dass die Art wie wir unser Leben geführt haben, etwas in Dir verankert hat, was einmal ein Gefühl von Heimat hätte werden können. Mit der Zeit. Heimat wächst einem langsam heran. Innen. Vielleicht hat Heimat etwas damit zu tun, zurückblicken zu können und zu wissen: Da habe ich meinen Wurzeln, dort war ich geborgen, dort war ich in der Welt beschützt und doch frei und voller Erwartungen. Es ist mein Ausgangspunkt, es ist der Punkt, zu dem ich zurückkehren kann. Dies muss kein Ort sein, vielleicht ist es ein Gewissheit, ein Zustand. Ich glaube, Du hast die Geborgenheit erlebt, zu wissen, dass man im Leben und in der Welt gut aufgehoben ist. Ich hoffe, Du hast diese Heimat immer gehabt. Solange Du am Leben warst. Wir wussten beide nicht, wie schnell sich alles ändern kann.

Vielleicht aber ist man für immer gut aufgehoben in der Welt, und die Welt reicht viel weiter, als wir ahnen.

Vielleicht können nur wir Lebenden es nicht begreifen.

Vielleicht.

Das macht es so schwer.

Herzschwer.

Vielleicht weißt Du es schon besser.
Jetzt.

 

 

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