Glück
GLÜCK
Lass mir ein wenig Zeit, mein lieber Simeon. Ich muss meine Kräfte sammeln, meine Stimme muss sich vom Weinen erholen, wenn ich wieder vom Glück erzählen will...
Über allem liegt schwer und dunkel die Trauer, die Verzweiflung und der Schmerz. Doch ich will vom Glück erzählen, damit es nicht verloren geht.
Es ist so kostbar und es ist unwiederbringlich. Das Glück. Das Leben.
Lieber Simeon,
Was für ein Glück, was für ein Tag, wenn ich nur träumen könnte!!!
Heute morgen: 10 vor 6 war ich wach und musste gleich daran danken, dass dies die Aufstehzeit für einen ganz normalen Schultag ist. Heute ist Montag. Nicht gerade Dein Lieblingstag.
Kein Traum:
Ich werde Dir kein Frühstück machen, werde Dich nicht wecken, werde nicht Dein Lächeln sehen, werde nicht Dein Morgengebrummel hören, werde nicht den Duft einer frischen Deowolke in die Nase bekommen.
Du wirst nicht beim Frühstück an einem halben Brötchen knabbern, die zweite Hälfte mit auf den Weg nehmen, Du wirst nicht mehr eilig durch die Wohnung jagen, um die „Achter“-Bahn noch zu schaffen, ich werde nicht den ewig gleichen Witz machen, Dich zu beglückwünschen, dass Du mit der Achterbahn zur Schule fahren darfst. Und ich werde Dich nicht mehr in den Arm nehmen, wir werden uns nicht gleichzeitig und gegenseitig diesen schönen tiefen Brummlaut „Mmmmmmmmmmmmmh“ ins Ohr summen, der zu unserem Verabschiedungsritual gehörte. Ich werde dabei nicht mehr Deine warme, weiche Wange spüren, die mit der Zeit immer wuscheliger und strubbeliger wurde, da sich ein 3-7-Tage-Bart dort anzusiedeln begann, der regelmäßig gemäht wurde, um dann wieder von Neuem und jedes Mal ein wenig stärker zu sprießen. Du wirst nicht mehr „Tschüss Mami, ich muss mich beeilen“ sagen und ganz schnell die Treppe hinunter laufen, ich werde nicht mehr auf dem Balkon in Deinem Zimmer stehen und sehen können, wie Du am Ende der Straße gerade um die Ecke biegst, so schnell…
Ich werde nicht mehr spüren, dass es ein wunderbarer Morgen ist, dass die Luft gut und klar und kühl ist, dass Du gut aufgehoben bist in der Welt, auf der Erde, im Leben, zwischen diesen Menschen hier, in diesem Land, in dieser Stadt. Ich werde nicht mehr spüren, wie Deine Kraft Dich trägt, Deine Lebenslust Dich antreibt, Deine Neugier Dich wachhält, Deine Liebe Dich lenkt, Deine Klugheit Dich schützt, Dein Schutzengel Dich begleitet.
Ich werde nicht mehr denken: Wie gut das alles so ist, wie es ist. Wie gut wir es haben! Wie glücklich wir sind!
Nie mehr.
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