
WEGE
- Der Duft nach Zimt und Orangen
- Ein Brief an Freunde anlässlich Deines Geburtstages
- Stern in der Nacht - für Dich, Simeon
- Schulweg
- Deine lieben Freunde
- Freunde in einer anderen Welt?
- Aufbruch in die "Neue Welt"
- Briefe an Dich, Geschichten für Dich
- Gedenkfeier in der Schule
- Hatun, wir treffen uns zufällig
- Nora, Songül und Zaynab
REISE NACH RHODOS
Freitag, 17.September
Die Altstadt ist von einer Stadtmauer umgeben. Die Straßen und Gassen sind mit glatten Strandkieseln gepflastert. Helle und dunkle Steine stehen hochkant nebeneinander und bilden Muster. Wir laufen fast jede Straße entlang.
Hier fahren nur wenige Autos, wir erholen uns vom unsäglichen Lärm der Motorräder. Die Touristen quetschen sich durch die Gassen an den vielen Geschäften, Cafés, Tavernen und Ständen vorbei. Manche Gassen sind stiller, fast menschenleer. Wir atmen auf. Wir sehen halb verfallene Häuser, Mauern mit eingefallenen Türen, verwitterte Innenhöfe. Und ich denke immer nur an Dich.
Das Getümmel in der engen Fußgängerstraße teilt sich. Ein Junge mit einem grünen T-Shirt fährt langsam auf einem Motorroller auf uns zu. Die Leute gehen zur Seite. Wir bleiben am Rand stehen und glauben nicht, was wir sehen. Wer schickt uns diese Bilder? Das Shirt hat dieselbe Farbe wie Dein Boston-T-Shirt. Der Junge ist 19 oder 20, er hat Locken, wie Du. Weiße Schrift auf dem T-Shirt, ehe ich sie entziffern kann, ist er schon vorbei gefahren. Auf Deinem Shirt steht in weißen Buchstaben BOSTON, darunter ist ein Kleeblatt. Glück. Du hattest es in Amerika gekauft. Glück. Du hattest es an, als Du eines Sommer-Nachmittags im Arbeitszimmer auf der Couch saßest und wir uns unterhielten. Glück. Da dachte ich: Simeon ist so hübsch. Braungebrannt, ausgeruht, froh, mit Deinen Locken mit Deinen braunen Hawaii-Bermudas und mit diesem dunkelgrünen BOSTON-Shirt. Glück. Ich hatte einen Moment lang den Impuls, Dich zu fotografieren, doch dann habe ich mir stattdessen Deinen Anblick ganz tief eingeprägt.
Ich drehe mich nach dem Jungen um. Von hinten sieht er aus wie Du. Er ist schon weit am Ende der Straße. Ich wünsche, Du wärst es. Ich sehe Dich überall.
Ich fotografiere auf dieser Reise für Dich. Damit ich mich erinnere, damit ich Dir alles beschreiben kann. Damit ich nie vergesse, dass ich hier ohne Dich bin und nur meine Trauer herumtrage. Damit Du alles durch meine Augen sehen kannst. Deshalb bin ich hier. In einem anderen Land. Sommerland. Rhodos. Urlaubsland. Insel. Lebensland.
Wir sitzen im Schatten auf einer Bank, trinken Wasser, lassen die Leute vorbei laufen. Sie kaufen etwas im kleinen Imbiss-Laden gegenüber und vertilgen es. Leute setzen sich neben uns, stehen wieder auf, andere kommen, stehen auf. Die ganze Zeit. Wir sitzen und schweigen.
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