Retter

Sonnabend,18. September

Ich denke in der Nacht an Dich. Ich wache am Morgen auf und denke an Dich. Wie wird Dein Grabstein aussehen? Wie wird dieser schöne Stein, den Christo behauen hat, als Du noch ganz klein warst, der niemals ein Grabstein sein sollte, der nur ein Regenbogenstein war, wie wird dieser Stein auf Deinem Grab stehen? Beim Frühstück auf der Terrasse frage ich Frank, wie wir weiterleben können. NACH DEM.

EngelDavid, der immer so stolz auf seinen kleinen Bruder war, ist ein Waisen-Bruder geworden. David, der Deinen Namen auf seinem linken Handgelenk trägt, sichtbar für alle, wünscht sich, dass wir es schaffen, ein „normales“ Leben zu führen. Er weiß, dass Du es auch so gewollt hättest, dass wir lernen, dass Leben zu lieben und nicht hoffnungslos verstreichen zu lassen. Du verstehst bestimmt gut, warum wir untröstlich sind. Du weißt, wie sehr ich Dich liebe. Du weißt, wie sehr ich Dir, wie sehr ich Euch beiden Kindern ein glückliches Leben wünschte. Ein langes, glückliches Leben. Nur dass Ihr lebt und das Leben liebt, auch wenn es schwer ist.

So wünscht David  auch, dass wir leben. Wenigstens, dass es von außen betrachtet, wie ein normales Leben aussieht. Ich will,  dass er sich nicht um mich sorgen muss. Er soll seine Mami behalten, auch wenn er mich eigentlich nicht mehr braucht, denn er ist ein Mann, ein erwachsener Mann geworden. Doch wenn man einen Bruder verloren hat, soll man nicht gleich noch seine Mutter verlieren.





Frontscheibe

Nach dem Frühstück wollen wir mit dem Bus zum Konferenzhotel. Alle Busse, die vorbeikommen, fahren in die falsche Richtung. Nach einer halben Stunde kommt endlich der Richtige. Am Strand hinter der Haltestelle liegen schon Leute. Eine dicke Frau, so braun wie ein Grillhähnchen wälzt sich auf ihrer Strandliege vom Rücken auf den Bauch. An der Treppe steht ein alter Mann und bastelt aus einem kaputten Metallskelett und einem blau-weißen Stoff- Fetzen einen funktionstüchtigen Sonnenschirm zusammen.

Bushaltestelle

Die Uhr an der Kreuzung geht vor. Der Minutenzeiger springt etwa alle zwei Sekunden weiter. So würde es ein halbes Jahr dauern, hätte man noch 20 Jahre zu leben. Das ist zu schaffen. Ein halbes Jahr. Irgendwie. Der Bus kommt, Frank fragt den Fahrer nach dem Rhodos Palace Hotel. Nach ein paar Minuten ruft der Fahrer die Station aus.

Schirme am Meer

Später laufen wir barfuß über den Strand. Ich sehe nur auf die Steine unter mir. Trauer schmerzt in jeder Zelle. Körperzelle, Hirnzelle. Warum. Warum. Warum. Warum. Warum. Warum. Wir sind zufällig auf der Welt. Wir gehen zufällig wieder fort.